Vor vielen Jahren sah ich zum ersten Mal Fotos einer kleinen weißen Holzkirche in Norwegen. Die umliegende Landschaft, mit den schneebedeckten Bergen und dem kühlen Licht, hatten mich in den Bann gezogen. Einige Jahre später stand ich nun wirklich hier, live und mit viel Herzklopfen.
Vor mir stand die Kirche von Gimsøy. Sie war kleiner, als ich sie erwartet hätte und irgendwie war ich ihr durch die zwischenzeitlich “in mode” gekommenen Fotos im Netz jetzt schon überdrüssig. Raik, ist das Dein Ernst? Nach meiner Ankunft hier gegen 03:30 Uhr (ja, die Zeit stimmt) zog ich es vor, mich fotografisch mit dem Umfeld auseinanderzusetzen und ließ die Kirche irgendwie links liegen. Der Rest war viel spannender und aufregender. Denn das kannte ich ja noch nicht. Erst eine ganze Stunde später war ich bereit, mich darauf einzulassen. So ist mein erstes gutes Foto der Kirche genau gegen 04:40 Uhr entstanden.
ÜBER TOTFOTOGRAFIERTE LOCATIONS
Die Erwartungen der bereits vorher gesehenen Fotos haben sich beim ersten Sehen vor Ort erfüllt. Gut, es gib sie, da ist sie, fertig. Was war passiert? Total unromantisch, gesättigt, überheblich? Die unbekannte Landschaft am Rande des Hauptmotivs empfand ich als exotischer, fotogener, frischer.
ES BRAUCHT REIFE
Doch irgendwann reift der Wein, wird runder, vollmundiger, schmeckt besser.
Die zweite Zusammenkunft war mit mehr Euphorie gefüllt. Warum? Die Bedingungen waren ausschlaggebend.
Es war tiefer Winter auf den Lofoten und der Weg hin zur Kirche war von einer Zuckerglasur aus dicken Eisschichten bedeckt. Die zarten Farben von Apricot lagen im Himmel und es war einfach nur schön. Das Motiv sah komplett anders aus! Wow, das hatte mich gepackt, tief in mir hat es mich berührt. Klar, dass sofort das Stativ aufgebaut wurde und der Moment konserviert werden musste. Das erste Foto des Morgens entstand um 06:30 Uhr und das letzte davon gegen 07:23 Uhr. So vielseitig war der Spot plötzlich. Der Himmel war zum Platzen gesättigt voller schöner Farben eines Sonnenaufgangs.
Somit können vermeintlich totfotografierte Fotospots ihren ureigenen Charakter zum Leben erwecken und sich in ihrer ganzen Schönheit zeigen. Ein viel strapaziertes Wort, totfotografiert.
Ja, es gibt die Plätze auf Erden, die man oft auf Instagram oder anderen Medien findet und denen man schnell überdrüssig wird. Man denkt, oh nein, nicht schon wieder. Wie viele Fotografen müssen dort sein, wie voll ist es dort und ich habe eh schon alles gesehen.
Doch die Realität kann überraschend anders sein!
Ich erinnere mich noch haargenau an jenen Morgen im Winter 2020.
Gimsøy die Dritte. Ankunft am Spot gegen 08:30 Uhr. Jippie, wird sich die Nachteule denken, endlich mal ausschlafen. Klare Sache, denn der Sonnenaufgang (falls sichtbar) findet Ende Januar gegen 10:20 Uhr statt.
Der Morgen ist fies. Es ist stark bewölkt, dunkel, kalt und die Schneeschauer kommen horizontal. Die arktische Stimmung wird körperlich wahrgenommen. Wie üblich auf den Lofoten, hält dieses Wetter für etwa 15 Minuten an. Der Himmel wird lichter, beruhigt sich und wiederum sieht Gimsøy an diesem Morgen anders aus. Eiskristalle sitzen auf dem Seetang am Strand und die Schneeschauer sind als graue Vorhänge strukturiert sichtbar. Der Spiegel in meiner Pentax schlägt nach oben und die Fotos hüpfen auf den vorgewärmten Sensor. Genau um 08:45 Uhr sitz der erste gute Shot. Ich umrunde die Kirche und finde an diese Morgen viele gute Motive. Licht ist alles. Es kann einen Fotospot fundamental verändern und ihm damit ein einmaliges, unverwechselbares Aussehen verleihen.
Jan Neumann November 5, 2021 - 1:35pm
Hi Raik,
ach wie schön erklärt! Genauso ist das! Freue mich schon auf Dich!
Liebe Grüße
Jan